So viele Krisen. So viele Konflikte. So viele schlechte Nachrichten, die 24/7 auf uns einprasseln. Marode Wirtschaft, Kriege rundum, ein künftiger US-Präsident, der Politik als Reality-Show bespielt, und auch bei uns nicht selten ein politisches Personal, das von der Gegenwart überfordert ist und so gar keine kraftvolle Vision für die Zukunft findet. „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ (Yade Yasemin Önder).

Immer tiefer frisst sich die toxische Grundstimmung in unsere Gesellschaft: viele Menschen sind geplagt von Verlustängsten – in Österreich sieht fast jede zweite Person eine Verschlechterung ihres Lebensstandards (Eurobarometer), in Deutschland schätzen nur noch 42% der Befragten die eigene wirtschaftliche Lage als gut oder sehr gut ein im Vergleich zu 65% in 2018 (rheingold Institut/Nestlé). Die Menschen reagieren mit Enttäuschung und Wut über einen Marktkapitalismus, der (anders als früher) sein Versprechen auf eine bessere Zukunft nicht mehr halten kann. Verlustängste sind, da ist sich die moderne Soziologie einig, die dunkle Schwester des „Fortschritts“.
Und dennoch gibt es in dieser erhitzten und „explosiven Moderne“ (Eva Illouz) viele Lichtblicke, auch jenseits privater Idyllen und geglücktem Eskapismus. Bemerkenswert ist vor allem der Optimismus der Next Generation, allen Sorgen zum Trotz: Etwa drei Viertel der Jugendlichen glauben, dass Deutschland ihnen alle Möglichkeiten bietet, ihre Lebensziele zu verwirklichen (Shell Jugendstudie 2024).

Wenn uns diese Zeiten der Ungewissheiten und Unsicherheiten etwas lehren, dann dies: es gibt kein Entweder-Oder, die Moderne besteht aus Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen. Wir sollten uns mehr in Ambiguitätstoleranz einüben anstatt in linearem Denken zu verharren. Es ist das Wesen von Phasen des Übergangs, dass sich in ihnen verschiedene, auch gegensätzliche Strömungen überlappen. Diese verkörpern, wie es die Organisationsberaterin Ruth Seliger formuliert, den Kampf „zwischen einem sterbenden Prinzip und einem, das gerade zur Welt kommen will.“ Wollen wir Hebammen und Geburtshelfer sein oder Totengräber?
Die Krise des Eis ist bekanntlich die Chance des Kückens. Die Zukunft kommt, meist quick and dirty. Und sie kann nicht warten. Also ran ans Tun.

Das Neue gelangt gerne durch gelenkte Zufälle in die Welt – flüssige Strategien, vorausschauende Transformation und smarte Umsetzung gehen dabei Hand in Hand. Um Krisenstimmungen hinter sich zu lassen, sind m.M.n. drei Punkte wichtig:
Kraftvolle Zukunfts-Erzählung
In Umbruchszeiten sind Stimmungen meist relevanter als die tatsächliche Lage. Wer Menschen bewegen und gewinnen will, braucht eine kraftvolle, begeisternde Geschichte, die eine kollektive Energie entfacht und zum gemeinsamen Handeln führt. An positiven, mitreißenden Zukunftsbildern freilich mangelt es überall – meist wird nur „noch Schlimmeres“ verhindert (etwa bei der Klimaanpassung), werden Schäden repariert, die Krise bestenfalls „eingedämmt“. Resilienz als gesellschaftlicher Leitstern ist zu wenig. Wir müssen in die Welt deutlich mehr hineingeben, als wir aus ihr herausholen (=Regeneration). Zuversicht ist dabei eine Grundtugend. Selbstwirksamkeit unser wichtigstes Gut.

Gemeinsames Tun – vom Ego zum Eco System
Gerade weil die Gesellschaft in unzählige Bubbles zerdröselt, braucht es einen starken sozialen Klebstoff. Eine integrative Kultur, die mit ihren Werten, Symbolen und Ritualen Raum schafft für Identifikation mit dem großen Ganzen wie auch für individuelle Selbstwirksamkeit. Eine zukunftsfähige Gesellschaft investiert zuvorderst in ihre soziale Ökologie – Lebensglück findet man in tragfähigen sozialen Beziehungen, sozialen Institutionen und an sozialen Orte. Aus diesen Bindungen heraus entstehen erst wirksame Transfers und kreative Kollaborationen. Ego-Silos fahren an die Wand, Eco Systems führen in die Zukunft.

Mehr Experimente
In einem instabilen System können wir uns nur agil, mit Experimenten und einer Kultur des spielerischen Lernens weiter entwickeln. Disruptive Zeiten schreien nach Experimenten und zugleich handfesten Lösungen. Kann sich noch jemand daran erinnern, wie in der Pandemie auf den Straßen unserer Städte plötzlich Parklets anstelle der Autoabstellplätze aufpoppten und zu flauschigen Dritten Orten wurden? Reallabore sind gekommen, um zu bleiben. Darum geht es: gewohnte Muster aufbrechen, ins spielerische Tun kommen, dabei auch mal ins Risiko gehen, mit Schwarmintelligenz (inter-)agieren. Playbook statt Plan.

Interview Andreas Reiter zum Thema Krisen, Resilienz und Anpassungsfähigkeit Wiener Zeitung 17.09.2024 https://shorturl.at/y80Rt

0 Kommentare zu “Raus aus der toxischen Grundstimmung”