Europa tut sich schwer im Moment – die politische Einheit ist mehr denn je fragil, nationalistischer Populismus frisst sich durch die Parlamente. Wirtschaftlich driften die meisten EU-Länder ohne große Zukunftsvision dahin, De-Industrialisierung droht, der Bürokratieabbau geht nur zäh voran. Bei Zukunftstechnologien wie KI liegt Europa weit abgeschlagen hinter China und den USA, in der Elektromobilität dominieren die Chinesen. An Strahlkraft eingebüßt hat – mit den politischen Umbrüchen – leider auch der Leitstern Green Deal und damit die einzigartige Positionierung Europas als klimaneutraler Green Tech Hub.

Was aber wirklich rund läuft am Standort Europa ist der Tourismus, und das landauf, landab. Hier wird die Hälfte aller weltweiten Ankünfte generiert, die meisten Reiseziele wachsen verlässlich, selbst in konjunkturell schwierigen Zeiten. Neben den Sun-& Beach-Destinationen sind es vor allem die Städte, die mit ihren enormen kulturellen Schätzen und ihrem historischen Flair Millionen Touristen anziehen.
Und eben diese atmosphärische Dichte europäischer Städte ist ein weltweiter USP – nirgendwo gibt es so viele städtische Highlights auf so kleinem Raum wie in Europa, von Brügge bis Tallinn, von Weimar bis Bologna. Mit ihren ikonischen Orten und historischen Preziosen laden Städte ihre Besucher:innen mit Bedeutung auf, betten sie in ein größeres Ganzes, erfüllen deren Sehnsucht nach Tiefe, nach dem Schönen, nach Erhabenheit und Harmonie. Städte sind Identifikations- und Resonanzräume, sie bündeln kulturelle und soziale Energie.

Gerade jetzt, in Zeiten von Krisen und kollektiver Verunsicherung, von Verlustängsten und mangelndem Vertrauen in die Zukunft ist der kulturelle Klebstoff wirkmächtiger denn je. Woher kommen wir, wo wollen wir hin? Was macht uns aus? Die gesellschaftlichen wie individuellen Suchbewegungen drehen sich immer um die Frage nach der eigenen Identität, der eigenen DNA, der eigenen Zugehörigkeit. Städtetrips bilden somit (beiläufig) den Rahmen für Selbstfindung und Selbstvergewisserung der Touristen. Das Flanieren durch historische Städte triggert bei diesen ein Grundgefühl der Moderne: Nostalgie.
„Wir leben im Zeitalter der Nostalgie“, analysierte der Soziologe Zygmunt Bauman einst zurecht. In Krisenzeiten regredieren Menschen gerne in eine (scheinbar bessere) Vergangenheit, in der noch alles seine gute Ordnung und Verbindlichkeit hatte. In der man sich (anders als in der unüberschaubaren Gegenwart) eben auskannte. Dieser Deep Dive in glorreiche frühere Zeiten vermittelt einem eine Ahnung von biografischer Kontinuität und Stärke – möge der Glanz vergangener Größe auf einen abfärben. Grandezza erste Reihe fußfrei.

Diese rückwärtsgewandte Sehnsucht ist zutiefst menschlich. Retrowellen bestimmen immer wieder unser Freizeit- und Konsumverhalten, von Omas Backrezepten über die Eissorten der Kindheit bis zum Retro-Sneaker. Viele Menschen kehren als Erwachsene verlässlich an die Orte ihrer Kindheits-Urlaube zurück – mit ihren eigenen Kindern. Retro-Abenteuer werden selbst auf Airbnb kuratiert, z.B. Ausflüge und Übernachtungen im ikonischen Polly Pocket-Haus, das in den 90er Jahren Millionen Kinder erfreute.
Retrowellen erfassen unsere Gesellschaft immer wieder und immer dann, wenn diese noch nicht genau weiß, wohin sie sich bewegen soll. Momente des Innehaltens, des Kraftholens für neue Schritte in die Zukunft.

Nostalgie ist ein wichtiges psychologisches Ventil, problematisch wird sie nur in ihrer Überdosis, wenn sie kollektiv zum bestimmenden Lebensgefühl wird. Zur Retromania. Wenn sie den Menschen die Lust auf das Neue, auf die Zukunft nimmt, indem sie uns historisierend einlullt. Wenn sie – wie jetzt gerade in ganz Europa – politisch flankiert wird durch populistische Heimatparteien, die sich in der Tradition verbarrikadieren und einen Gartenzaun zwischen sich und der bedrohlichen Welt da draußen, der Moderne hochziehen.
Diesen Kollateralschaden gilt es im Auge zu haben – sonst wird Europa eines Tages zu einem historischen Themenpark, und unsere Städte werden zu einem Living Museum für asiatische Touristen, die hinter digitalen Drehkreuzen in unsere Altstadt-Kulissen entschwinden. Solange man jedoch
- für junges geschäftiges Leben im alten Gemäuer sorgt, für die Ansiedlung smarter Unternehmen und für künstlerische Irritation, für leistbaren Alltag der Bewohner:innen und attraktive Dritte Orte (=Attraktivität nach innen)
- nanotouristische Formate entwickelt und tiefgehende Begegnungen ermöglicht (=Attraktivität nach außen)
… solange man die Zukunft nicht allein der Vergangenheit überlässt, hat der Städtetourismus im alten Europa weiterhin eine hervorragende Perspektive.


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