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Überholter Wachstumsbegriff und neuer Luxus

Die Geschichte der Menschheit ist ohne Wachstum, und dieses bedeutet ja immer auch Innovation, nicht denkbar. Wachstum ist unser evolutionäres Betriebssystem. Nicht ob wir wachsen sollen ist künftig die Frage, sondern wie. Die Weltbevölkerung nimmt massiv zu, von knapp einer Milliarde im Jahr 1800 auf neun Milliarden im Jahr 2050, als um das Zehnfache. Die Weltwirtschaft wächst im längeren Prognosezeitraum um durchschnittlich 3 Prozent, der Energieverbrauch verdoppelt sich bis 2050. Mehr denn je – nicht nur aufgrund der aktuellen Strukturkrise in Europa – steht unser bisheriges Wachstums-Modell auf dem Prüfstand.

Die rein quantitative Wachstumsspirale muss dringend korrigiert werden. Wachstum ist schließlich immer auch an Ressourcenverbrauch gekoppelt, und Ressourcen sind heute in jeder Hinsicht knapp. Wachstum sozial und ökologisch verträglich zu gestalten, ist die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts.  Es geht künftig nicht um Größe – size does not matter -, sondern um kreatives Wachstum. Nicht der Konsum-Verzicht ist die Lösung, sondern ein intelligenter Produktionskreislauf, der aus Abfall neue Materialien schafft. Mittelfristig wird sich die Wirtschaft zur Blue Economy, zu nachhaltigen Wirtschaftskreisläufen hin umgestalten.

Unbestritten haben wir – in den entwickelten Ländern – von allem zu viel. Zu viele Informationen. Zu viele Produkte, zu viele Schulden, zu viele Ängste. Die eine braucht das 23. Paar limettenfarbener Pumps, um den Alltag leichter zu bewältigen, der andere jedes Wochenende seinen Adrenalinschub beim Free Climbing. So what? Konsumkritiker werfen  adrette Buchtitel wie „Wir konsumieren uns zu Tode“ oder „No Shopping“ auf den Markt. Kulturpessimisten attackieren die Wachstumslogik der Marktwirtschaft, die Gier nach immer mehr. Alternative Szenen wie die Lovos (Lifestyle of Voluntary Simplicity) experimentieren mit einfachen Lebensformen, versorgen sich weitgehend selbst. Andere betreiben Tauschhandel, organisieren sich in Communities, um Ressourcen und Produkte mit anderen zu teilen, die dritten schlurfen mit einem Paar Schuhe durchs Leben.

Dieses Downshifting, also das freiwillige Herunterschalten, ist eine Gegenbewegung zum multioptionalen Lifestyle, der Versuch, die verwirrende Vielfalt zu reduzieren und mit gutem Gewissen zu verbinden. Downshifting ist das Ventil einer übersättigten Gesellschaft – aber nicht mehr als eine kosmetische Reaktion. Die Vereinfacher und Simplifyer korrigieren Exzesse, Auswüchse – das System ändern sie jedoch nicht.

Die Veränderung kann nur von innen kommen, von den Systemträgern selbst, von den Hohepriestern der Effizienz, der Rendite und der Beschleunigung. Dort, in den Management-Etagen und am Desktop der kreativen Wissenselite, hat sich der Luxusbegriff schon längst gedreht: Zeit, Ruhe, Raum… das ist der neue Luxus. „Steigerung erzeugt eine Dynamik des Verfalls der Symbolkraft“, so der Soziologe Gerhard Schulze. Nicht die fünfte Rolex-Uhr ist das Status-Symbol der wirklich Erfolgreichen, sondern der dreiwöchige Fußmarsch durch Patagonien oder das selbst gezimmerte Baumhaus.

Wie sehr die neuen Symbole für Luxus und Verwöhnung die Breite der Gesellschaft erreicht haben, merkt man an der angewandten Produktsemantik. Keine Stadt mehr ohne Chillout-Zone, kein Firmensitz ohne Lounge. Die zwei entscheidenden Konsumentengruppen, die Frauen und die Best Agers, verankern diesen Wertewandel, das Ausbalancieren von Be- und Entschleunigung, künftig noch stärker. „Walk, don’t run“ lautete vor einigen Jahren folgerichtig die Werbelinie von Camper und zeigte einen Grauhaarigen mit bequemen Schuhen und entspanntem Lächeln.

Steigender Lebensstandard bedeutet nicht automatisch auch steigende Lebensqualität. Genau an diesem Punkt setzt die Neudefinition von Luxus an. Menschen brauchen zwar Status-Symbole, um sich von anderen zu differenzieren. Der Image-Gewinn ist jedoch immer stärker immateriell codiert. Wenn es – wie in westlichen Ländern – mehr Handys gibt als Menschen, in manchen Städten mehr Autos als Bürger, da muss man sich als Konsument schon weit weg vom Mainstream bewegen. Nur dann ist man anders. Wenn aber alle krampfhaft anders sein wollen, sind sie ja auch wieder gleich. Im individualisierten Westen ist ein Produkt umso wertvoller, je individueller es ist. In Schwellenländern ist es genau umgekehrt: je mehr Leute ein Produkt haben, umso begehrenswerter wird es.

Nein, über die materielle Steigerungs-Logik kommen wir nicht weiter. Die höchste Form von Luxus ist Aufmerksamkeit, Zuwendung. Und diese bedeutet mehr als den Like-Button bei Facebook.

Dieser Text ist eine redigierte Zusammenfassung eines Interviews mit Zukunftsforscher Andreas Reiter zum Thema  „Sind wir zu viele?“ im jüngsten Magazin von „2012. Das vielleicht letzte Magazin der Welt“ aus dem Hause Red Bull.

http://www.2012.at

 

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