Ich stehe im Düsseldorfer Kunstpalast und betrachte einen Mann, der wiederum ein Bild betrachtet. Es handelt sich um May Day IV, eines der ikonischen Fotos von Andreas Gursky, das eine ekstatisch tanzende Menschenmenge auf einem Mega-Rave zeigt. Ein fast historischer Anblick: schließlich sind die Clubs pandemisch geschlossen, die Party ist Vergangenheit, die es nun im Museum wehmütig zu erinnern gilt.
Ja, wir haben in der Pandemie die Nacht verloren und damit den dunklen, unkontrollierbaren (Innen)Raum: unsere mäandernden Gefühlswelten, das Rauschhafte und Experimentelle, das Überraschende und Unerwartete, das zwischen dem abendlichen Verlassen des Hauses und dem Morgengrauen passieren kann…. und auch das Kollektiv ist (seit nun bald zwei Jahren) nicht mehr. Stattdessen sitzen wir fragmentiert auf der Couch, navigieren durch kuratierte Spotify-Playlists und futtern den ins Haus gelieferten veganen Burger.
Die Pandemie ist ein Stresstest in jeglicher Hinsicht – vor allem auch in psycho-sozialer. Völlige Unplanbarkeit und Unsicherheit, Einschränkungen, ein ständiges On/Off… Ängste, Gereiztheit und Radikalisierung nehmen zu, selten zuvor war das Immunsystem unserer Gesellschaft so angegriffen: 2/3 der Deutschen blicken denn auch ängstlich in die gesellschaftliche Zukunft (rheingold institut). 21% der Österreicher leiden unter Depressionen (OECD, Health at a Glance, 2021), und es sind vor allem die Jungen: jeder Vierte leidet unter psychischen Problemen (Allianz Jugendstudie, 2021).

Die Jungen kommen deutlich schlechter durch die Pandemie als die älteren Generationen, ihnen fehlen die sozialen Rituale, die kollektiven Grenzüberschreitungen auf Clubs und Festivals, all die guilty pleasures auf dem Weg zur Ich-Findung… Im Gegenzug wird ihr Leben eingeengt und unterliegt drastischen Geschwindigkeitsbeschränkungen… Das bisschen Revenge Travel rund um den eigenen Kirchturm holt die wenigsten aus der toxischen Stimmung.
Zudem ändert sich gerade das Betriebssystem unserer Gesellschaft: von der Präsenzorientierung hin zum Remote Living, vom physischen Kollektiv zum virtuell vernetzten Individuum – die ortlose Gesellschaft – und damit eine interaktive Verkümmerung – verfestigt sich. Demnächst rollen Meta (ex Facebook), Microsoft & Co mit dem Metaverse eine virtuelle Welt auf, in der Menschen und Organisationen über 3D-Avatare und in synthetischen Räumen interagieren (sollen). Das wird das Oxytocin, das für unser Wohlbefinden so wichtige zwischenmenschliche Bindungshormon, auch nicht gerade erhöhen.
Aber: „There is a crack in everything. That’s how the light gets in“ (Leonard Cohen). Die Krisen von heute sind Türöffner in die Zukunft, sie stoßen neue Möglichkeitsräume auf. Wir werden uns postpandemisch – im Rahmen des smarten und regenerativen Umbaus unserer Wirtschaft – intensiv mit gesellschaftlichen Fragen beschäftigen. Denn eine zukunftsrobuste Gesellschaft hängt von ihrer sozialen Balance ab, von ihrer Fähigkeit, das Wohlbefinden des Einzelnen mit dem Gemeinwohl zu verknüpfen.

Soziale Themen und damit verbunden soziale Innovationen werden die nächsten Jahre entscheidend mitbestimmen – von attraktiven Arbeitsmodellen (4 Tage–Woche) über Mental Health-Programme bis hin zu intakten, lebendigen Nachbarschaften. Wie stärken wir – nach diesen pandemischen Jahren der sozialen Distanz – das kollektive Verantwortungsgefühl, das Für-einander-Einstehen, diesen Community Spirit, wie ihn z.B. die Skandinavier so selbstverständlich vorleben? Wie verbessern wir – vorausschauend – das System der Krisen-Intervention (gerade auch für depressive Jugendliche/Kinder)? Wie holen wir die Abgehängten und Andersdenkenden aus ihren Bubbles und wieder mittenrein? Mit welchen Formaten verbessern wir gesellschaftliche Teilhabe und eine inklusive Kultur?

Eine Neuformatierung der Beziehung von Ich und Wir, Unternehmen und Gesellschaft ist unausweichlich – wir leben mehr denn je vernetzt und in wechselseitiger Abhängigkeit. Das Agieren in Silos hat sich überlebt, die Zukunft gehört der partizipativen Gestaltung:
- Eine vernetzte Gesellschaft beruht auf kollaborativen Werten. Das Gemeinwohl rückt in den (gesellschaftspolitischen) Vordergrund, z.B. die gemeinwohlorientierte Entwicklung von Städten und Regionen, Open Data-Strategien oder PPP-Projekte, die Unternehmen wie der Gesellschaft einen Gewinn einbringen. „Altruistischer Egoismus“ (Ulrich Beck) eben.
- Die Digitale Moderne treibt nicht nur das Metaverse voran, sondern auch eine Renaissance der (physischen) Dritten Orte. Wir werden (mit der Erfahrung der Pandemie) den öffentlichen Raum künftig weit experimenteller und inklusiver bespielen, von Skandinavien bis Singapur, von Gemeinschaftsgärten auf dem Dach bis zu 15-Minuten-Quartieren. Menschen brauchen Orte, an denen sie physische Nähe kultivieren und gemeinsam an einer besseren Zukunft basteln können.
- In einem agilen Ökosystem nehmen kooperative Lebens- und Arbeitsformen zu, physisch wie virtuell (z.B. Digital Twins). Kollaboration ist bereits heute eine unverzichtbare Kulturtechnik, Empathie eine Kern-Tugend. Community-getriebene Formate wie Business-Hubs, Co-Working-Spaces, Co-Living etc. stärken Kreativität und Wettbewerbsfähigkeit (Cross Innovation) der Nutzer.
- Erfolgreiche Unternehmen und Marken zeigen Haltung: 75% der deutschen Konsumenten erwarten, dass sich Marken „aktiv an Lösungen für soziale und ökologische Probleme beteiligen und eine klare Haltung einnehmen“ (Havas, Meaningful Brands). Besonders die (Post-)Millenials haben hohe Ansprüche an die transformatorische Gestaltung durch Marken.

Krisen sind Booster für Richtungswechsel. Die Postwachstums-Phase ist bereits eingeläutet: Jetzt geht’s nicht nur um Produkte, sondern um Prozesse, nicht nur um Performance, sondern um Resilienz, nicht nur um Hardware, sondern um die Software: Menschen und ihre Beziehungen, Gemeinschaft und soziales Kapital.
0 Kommentare zu “Reset & soziale Balance”