Unser Lebensglück hängt, das zeigen Umfragen immer wieder, entscheidend von drei Faktoren ab: Gesundheit, Freunde, liebevolle Partnerschaft. Die Liebe aber ist das Epizentrum unserer Gefühle. Sie trägt uns durchs Leben. Ob Lieben eine Kunst oder eine Arbeit (an sich selbst, an der Beziehung) ist, mag jeder für sich selbst entscheiden. Nichts jedenfalls ist so widersprüchlich, so schwer zu greifen – und zu halten – wie die Liebe. Die Liebe ist ein seltsames Spiel, sie kommt und geht von einem zum andern, trällerte Connie Francis in den frühen 1960ern. Über die Liebe sollte man ja eigentlich nur Poeten sprechen lassen oder Schlagersänger. Diese haben die Deutungshoheit über Gefühle, als Zukunftsforscher müßte man dazu schweigen.
Wenn man über die Liebe spricht, gerät man schnell in eine doppelte Falle: Entweder man plaudert aus der Ratgeber-Ecke à la „Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest“ oder man analysiert die Liebe auf der Meta-Ebene, also biologisch, kulturell, psychologisch etc. Beide Ansätze – der triviale und der wissenschaftliche wohl noch mehr – werden dem Mysterium Liebe nicht wirklich gerecht. Die Liebe lässt sich nicht vermessen, weder im Kernspintomografen noch im Chemie-Labor. Sie bleibt, allen evolutionsbiologischen und neurologischen Erkenntnissen zum Trotz, ein Geheimnis. Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt, sagte Pascal.
Die lebenslange Liebe mag zwar immer noch in unserem evolutionären Programm als Ideal verankert sein, in der Realität aber wird sie zunehmend abgelöst durch lebenszyklische Partnerschaften, durch serielle Monogamie. Lebensentwürfe sind heute bunter, die Formen von Beziehungen vielfältiger. Es gibt hetero- und homosexuelle Liebesbeziehungen, traditionelle Mama-Papa-Kind-Familien und immer mehr Patchwork-Familien, die in ihrer Unübersichtlich schon einem Clan gleichen. Aus der Beziehungskiste wird ein Beziehungs-Mobile. Die einen suchen die romantische Liebe, die anderen nur Sex. Die einen brauchen dafür einen, die anderen gleich mehrere Partner. Das Netz beschleunigt zweifellos auch den konsumistischen Aspekt der Sexualität, der Zugang zu sexuellen Dienstleistungen wird einfacher, bequemer. Man ist immer nur einen Mausclick vom nächsten Orgasmus entfernt. Click me.
Dass man aus Liebe eine Partnerschaft eingeht, ist evolutionsgeschichtlich ein sehr junges Phänomen. Bis zum 20. Jahrhundert waren Ehen ja primär Wirtschaftsgemeinschaften. Der Mann war der Versorger, die Frau war für das häusliche und für das Familien-Leben zuständig. Die Rollen waren klar verteilt. Heute ist alles viel komplexer und komplizierter, die Erwartungen an beide Geschlechter steigen. Dazu kommt der enorme emotionale Anspruch an den Partner. Man will alles von ihm. Die totale Verschmelzung zweier Seelen und Körper, wie bei Platons Kugelmenschen.
Ein totalitärer Anspruch an die Liebe, er ist Segen und Fluch zugleich. Liebe soll aufregend sein und gleichzeitig Geborgenheit bieten, wir suchen in ihr sexuelle Exstase ebenso wie Alltags-Wellness. Liebe ist ein „unordentliches Gefühl“, wie der Autor Richard David Precht so treffend sagt. Da Ordnung hineinzubringen, wäre kontraproduktiv. Das Dilemma ist wohl, so unterschiedliche Dinge wie Romantik, Sex und Alltagsleben in Einklang zu bringen – und das noch dazu mit ein- und derselben Person.
Liebe wertet uns auf. Jeder Mensch möchte etwas Besonderes sein. Im Berufsleben gelingt das nur wenigen. Also sucht man sich ein anderes Bestätigungs-Feld. Und überträgt diese Sehnsüchte nach Exklusivität auf den Liebespartner. In den Augen des Liebespartners wollen wir einzigartig sein, außergewöhnlich. Er soll uns alle Aufmerksamkeit dieser Welt schenken, wir haben sie uns ja auch verdient. Die Liebe ist die letzte große Bühne für unser Ego, für unsere Selbstverwirklichung. Wir kommen, psychologisch gesprochen, über das Du zum Ich. „Sie erkannten einander“, heißt es in der Bibel. Und genau das ist ja der Wunsch aller Liebenden: vom anderen – erotisch und seelisch – „erkannt“ und tief im Innersten berührt zu werden.
Dieser Text ist die – gekürzte – Zusammenfassung eines Interviews mit Andreas Reiter im neu erschienenen Magazin „2012. Das vielleicht letzte Magazin der Welt“ aus dem Hause Red Bull. www.2012.at
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