41.575 Menschen können nicht irren. So viele Fans hat die Facebook-Seite der Gruppe „Rettet die Niemetz Schwedenbomben“ aktuell. Mit viralen Aktivitäten soll der vor kurzem in Insolvenz gegangene Wiener Süßwarenhersteller Niemetz gerettet, der Absatz der legendären Schwedenbomben wieder angekurbelt werden. Zumindest Letzteres ist bisher gelungen. Mit einer Zwischenfinanzierung konnte sich das Unternehmen schnelle Liquidität verschaffen und den Handel wieder verlässlich beliefern. Gerettet ist das Unternehmen aber damit noch nicht.
Die Schwedenbomben von Niemetz sind eine der letzten Wiener Trademarks, kaum ein Österreicher, der nicht in dieses süße Nirwana gebissen hätte (ich persönlich ziehe ein anderes Produkt dieser Firma vor – Swedy, ein zart auf der Zunge dahin schmelzender Schoko-Riegel). Warum die Kokos-Bombe geplatzt und der Umsatz letztes Jahr um fast 23 Prozent einbrach, hat wohl viele Gründe: ineffiziente Produktionsweise, Strategiefehler (ohne Innovation kann man auf dem stark umkämpften Markt (Dickmann’s und Co.) nicht bestehen), vernachlässigte Markt-Kommunikation (www.sweet-niemetz.com), von Social Media-Kanälen ganz zu schweigen… Dass die Konsumenten aus ernährungstechnischen Gründen immer seltener zur kalorienreichen Schaumbombe griffen, bezweifle ich – unser stressreicher Alltag bietet genug Anlässe, sich das Leben versüßen zu wollen.
Ich sehe den Hauptgrund für die Schieflage der Schwedenbombe in der (kaum wahrnehmbaren) Markenführung. Während andere heimische Retro-Marken wie Manner und Almdudler (großartig!) die Klaviatur der Social Conversation und des viralen Marketings beherrschen und in ihren Communities präsent sind, gibt es die Niemetz Schwedenbomben mehrheitlich nur in der Erinnerung der Konsumenten – als Remineszenz an die eigene Kindheit. Aber genau diese Stärke hat man bisher vernachlässigt, dabei liegen in ihr ja die Magie und der Marken-Kern dieser Retro-Marke: aus der Vergangenheit Kraft für die Gegenwart zu ziehen, das Ich wieder aufzuladen mit süßen Genüssen und dem nostalgischen Schaum der eigenen Kindheit.
Die Inszenierung der Kindheit ist ein Schutzschild, ein Firewall vor den gesellschaftlichen Umwälzungen. Das rasante Tempo unserer Gesellschaft mit ihren zahllosen biographischen Brüchen und Umbrüchen überfordert heute viele Erwachsene. Kein Wunder, dass Erwachsene sich immer wieder kurzfristig mit dem Airbag einer heilen Kindheit umgeben wollen – etwa mit einem Schaumkuss.
Dass die Facebook-Gruppe „Rettet die Niemetz Schwedenbomben“ in wenigen Tagen auf 41.575 Fans hochschnellte, ist ein starker Appell an die Marke. Die Fans verteidigen mit ihren (Kauf-)Aktionen aber vor allem ihre eigene Kindheit (und weniger das Produkt Schwedenbombe). Marken stehen für Sicherheit und Stabilität. Je unsicherer unsere Welt ist, je mehr die eigene Identität gefährdet ist, desto wichtiger wird die Beziehung zwischen Marke und Kunden. Marken sind Beziehungspartner – wenn ihre Existenz in Frage gestellt ist, dann wird auch die Identität der Kunden brüchig. So erklärt sich auch das Aufbäumen der Kunden und die Bündelung deren Verteidigungskräfte am POS. 41.575 Fans können nicht irren – aber sie wollen auch in Zukunft ihre Vergangenheit feiern.
Damit Niemetz Zukunft hat und Vergangenheit bietet, braucht das Unternehmen einen Investor, der
- in die Produktion ebenso investiert wie ins Packaging Design (die 6-er-Plastik-Verpackung ist – auch ökologisch – ein Drama)
- gesündere Light-Varianten entwickelt
- das Sortiment kreativ mit Innovationen auflädt
- die Marken-Kommunikation emotionalisiert und aus Kunden Fans macht (die hohe Kunst der digitalen Markenführung).
Eine Marke ist nur dann erfolgreich, wenn Bekanntheit in Begehrlichkeit übersetzt wird. Für Retro-Geschichten ist in der Psyche der Konsumenten mehr denn je Platz. Nur mit diesem Story Telling kann die Schwedenbombe wieder in den Regalen ticken.
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