Individualisierung ist eine Zwillingsschwester des Kapitalismus. Nirgendwo erarbeiten sich Konsumenten das Anderssein derart strategisch wie über ihren (Freizeit)-Konsum: hier ein Kaschmirschal mit eigenen Initialen, dort ein untergäriges Craft Beer aus der Mikro-Brauerei oder eine Übernachtung in einem lokal tätowierten Pop-up-Hotel. Be different!

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Differenzierung ist (harte) Identitätsarbeit und generiert immer mehr Nischen in der Produktkultur, auch und gerade in der Hotellerie. Insbesondere die Stadt-Hotellerie steht – angesichts des boomenden Städte-Tourismus – unter wachsendem Branding-Druck. Die großen Hotelketten differenzieren sich immer stärker und kreieren Lifestyle-Hubs (W-Hotels von Starwood, Nhow-Hotels von NH, demnächst die me and all-Hotels von Lindner usf.), kleine Boutique-Hotels fokussieren auf spezielle Gäste-Milieus. Stilgruppe statt Zielgruppe heißt die Devise.

Wie fein ziseliert die Individualisierung der Konsumgesellschaft – und damit der Zwang zur Distinktion – bereits ist, zeigt der enorme Erfolg der Bettenbörse Airbnb, ein längst der WG-Couch entwachsener globaler Konzern, der seinen Gästen eine kosmetische Individualisierung und ein industrialisiertes „Local“-Gefühl anbietet. Doch wo sollen all die HIPs (Highly individualised people) übernachten, die die mühselige Differenzierungsarbeit der Mittelschichten und das Herunterbeten von Lifestyle-Bibeln à la Monocle schon hinter sich haben? Wo finden sie ihre Spielplätze zur Identitäts-Konstruktion und ihre Distinktions-Erlebnisse?

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Zum Beispiel im (vor kurzem eröffneten) Grätzlhotel in Wien. Dieses Hotel (das keines ist) ist eine logische Weiterentwicklung der Streetlofts: die Urbanauts hatten bei diesen schon – vorbildlich und pionierhaft – leerstehende Gewerbelokale in touristische Lofts umgewandelt (siehe auch unser Blogeintrag https://goo.gl/Quvxb4).

Auch bei ihrem nunmehrigen Grätzlhotel werden ehemalige Geschäftslokale in B- und C-Lage umfunktioniert zu touristischen Suiten – allerdings diesmal rund um einen Marktplatz (derzeit 3 Standorte). Mehrere Suiten sind da verteilt über Stockwerke und Häuser rund um z.B. den Karmelitermarkt, als Rezeption und Treffpunkt dient ein Café. Der Marktplatz wird zur Lobby, das Alltagsgefühl dringt durch die ebenerdigen Schaufenster, Einheimische und Gäste verschmelzen (bestenfalls) zu einer lokalen Community.

kostal_MG_0168_kleinEin fragmentiertes Hotel also. Und genau darin liegt der Charme dieses Konzepts: das Hotel wird anders gedacht und anders (nämlich dezentral) angelegt. Darin liegt auch die Innovationsleistung: Stadtleben und Hotelleben zu spiegeln und zu verschmelzen, ein „authentisches“ Lebensgefühl bei Touristen zu erzeugen, indem sie zu Mitspielern des Wiener Alltags werden.

Das fragmentierte (über den Marktplatz verteilte) Hotel bedient nicht nur die Erwartungshaltung der Experience Hunters, es leistet auch einen Beitrag in der städtischen Transformation. Städte sind schließlich Resonanzräume für gesellschaftliche Entwicklungen: wenn die Stadt-Gesellschaft in kleine Einheiten zerfällt, dann spiegelt sich dies auch in ihrer räumlichen Struktur und in ihrer Dekonstruktion. Fragmente, Mikrowelten überspannen als loses Netz die Stadt. In Amsterdam hat der Architekt Frans van Klingeren eine fragmentierte Mensa errichtet – statt eines Neubaus für die Mensa wird die gesamte Altstadt zum Lokal – die Studenten bevölkern mittags Lokale der Altstadt, das Essen wird bezuschusst.

Die Wiener Urbanauten sind mit diesem Konzept des Grätzlhotels erwachsen geworden, das Hotel ist fragmentiert. Ein wunderbares Narrativ für die Stadt im Umbruch.

Link: http://www.graetzlhotel.com/

2 Kommentare zu “Das fragmentierte Hotel

  1. Schellhorn, Sepp

    grossartig

    danke . sepp ________________________________

  2. zum lesen

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