Was kommt, was bleibt, was geht? Diese Fragen stellt man sich mit Vorliebe zum Jahreswechsel, in diesen flauschigen Tagen des Übergangs. Ohnehin leben wir in Zeiten des Transits: zwischen physischer und virtueller Realität, Privatem und Öffentlichem, Arbeit und Freizeit. Alles was bisher fest war, wird flüssig. Gewohnte Sicherheiten lösen sich auf, Brüche markieren die Biografie der Digital-Moderne. Disruption herrscht in der Wirtschaft wie im Privatleben (die Blockchain bzw. die dritte Ex-Schwiegermutter lässt grüßen). Change.
Die digitale Transformation nimmt an Tiefe und Rasanz zu: Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, Plattform-Ökonomie, dies alles verändert unser Leben radikal. Algorithmen wissen, was wir morgen konsumieren wollen, welcher Partner am besten zu unseren Macken passt oder welcher Mitarbeiter zu unserer Unternehmens-Kultur. Sensoren tracken unsere Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz oder (z.B. in Matratzen integriert) unseren Schlaf. Start-ups werden zur Blaupause einer sich ständig erneuernden Gesellschaft, die Krypto-Jünger („In Litecoins we trust“) zu Vorturnern des digitalen Kapitalismus.
Klar, Leben ist Veränderung auf ein bewegliches Ziel hin, dies erfordert von jedem Einzelnen eine hohe Agilität. Viele Menschen aber fühlen sich davon überfordert und verunsichert. Die Folge ist ein Rückzug in die Komfort-Zonen des Lebens, in die privaten Feel Good-Bereiche: Food, Sex, Ego-Tuning. Dort wenigstens hat der Einzelne das Gefühl, noch selbst etwas gestalten zu können. Ein Brokkoli-Pesto nach dem neuesten Clean Eating-Rezept, ein cooles Tattoo auf dem Schulterblatt, ein Achtsamkeits-Retreat in den slowenischen Alpen… Alles kleine Puzzle-Steine, aus denen man die eigene Identität immer wieder von neuem zusammensetzt und Instagram-konform gestaltet.
In einer Welt, in der nur noch wenig Bestand hat, werden Identitäten flüssiger, aber auch fragiler. Individuen wie Gesellschaften suchen somit Strategien zur Risikobegrenzung. Diese sind jedoch – im Gegenzug zum Vorwärtsdrang der Wirtschaft – häufig reaktiv.
So wie der Einzelne ist auch die Gesellschaft derzeit auf dem Rückzug nach innen – zurück in die eigenen vier Wände, in die eigene Kultur -letztlich entsteht eine „tribalisierte Gesellschaft“, die in einzelne „Stämme“ zerfällt. Das Leben ist zu komplex und unübersichtlich geworden, die Globalisierung befremdet, also muss die Welt wenigstens im Kleinsten wieder geordnet werden. Daher der Rückgriff auf einen verlässlich-starken Gefühlszustand, auf Heimat. Dieser Begriff (oder besser: dieses Gefühl) ist längst wieder resozialisiert – nicht nur Genussmittel und Krimis, auch Ministerien branden sich mit diesem Namen und selbst die Grünen tragen das Heimatschild neuerdings gerne vor sich her. Ein verständlicher Reflex – das Vertraute gibt Sicherheit, ein Airbag vor den Turbulenzen der globalen Transformation. Vor allem aber – das kennen wir auch aus der Marken-Entwicklung – dient die Abgrenzung der Identitätsbildung, der eigenen Differenzierung.
Umbrüche aber erfordern hybride Qualitäten von uns: den situativen Wechsel vom Standbein zum Spielbein, die Verschmelzung von Lokalem mit Globalem, von Altem mit Neuem, von Analog und Digital. Nur so kann man Zukunft aktiv gestalten – mit Retro-Haltungen, mit der „Verteidigung der Missionarsstellung“ (©Wolfgang Haas) ist es nicht getan. Es gibt keine Roadmap für die Transformation außer jener: an den eigenen Werten festzuhalten, die Strategie zur Erreichung seiner Ziele aber agil anzupassen an das sich stets ändernde Umfeld.
Die alte Welt mag einem mehr Sicherheiten geboten haben, aber eben auch nur sehr begrenzte Möglichkeiten. Und was ist Zukunft anderes als ein unendlicher Möglichkeitsraum?
Insofern haben die Digital Natives, die Agenten des Wandels, ein wunderbares Spielfeld vor sich, in dem sie sich (hoffentlich zum Nutzen vieler) ausprobieren können. „Keine Ahnung, warum Menschen Angst vor neuen Ideen haben. Ich jedenfalls fürchte mich vor den alten“ (John Cage).
Zum Jahreswechsel gab Andreas Reiter im KURIER einen Ausblick auf die Zukunft, auf zentrale Trends in Zeiten der digitalen Transformation
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