Gesellschaftlicher Wandel Place Making Urban Future

Städte-Tourismus: Kultur ist jetzt mehr denn je systemrelevant

Was systemrelevant ist, erkennt man oft erst in der Verknappung. So dämmerte uns in den letzten Wochen, dass Krankenschwestern und Supermarkt-Kassiererinnen das System am Laufen halten, wir vermissten die gestaltende Hand unserer Friseurin etc. … Ja, und im stillgelegten Städte-Tourismus wird angesichts des Shutdowns vielen Akteuren schmerzlich klar, dass die atmosphärische Qualität ihrer Städte nicht nur vom kulturellen Erbe, von Gastronomie und Concept Stores abhängig ist, sondern auch von einer pulsierenden Kultur- und Kreativ-Szene.

20191112_121222-06-01Das kulturelle Kapital ist freilich nicht nur ein touristisches Asset, sondern längst auch ein entscheidender Standortfaktor für Bewohner wie für Investoren. Kulturelle Hotspots wie Stuttgart, Frankfurt, Basel u.a. ziehen hochqualifizierte Mitarbeiter an, diese wiederum speisen ihr Geld in den regionalen Wirtschaftskreislauf ein. Konzerthäuser und Museen, Kinos, Theater, Galerien und Clubs – sie alle bilden die systemrelevante Infrastruktur in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, in der es beim Einzelnen wie bei Standorten permanent um eine „ästhetische Selbsterneuerung“ (Andreas Reckwitz) geht. Seitdem in den Nullerjahren das Konzept der „Creative City“ von Richard Florida die Runde gemacht hatte und Metropolen von Barcelona bis Glasgow als Blaupause diente, hat man verstanden: Kultur ist Daseinsvorsorge nach innen und Imagefaktor nach außen.

5Nur liegt jetzt, niedergestreckt vom Virus, eben diese Kultur- und Kreativszene am Boden. Das Kompetenzzentrum Kultur geht von einem Verlust von bis zu 28 Mrd. Euro Verlust für deutsche Kulturszenen aus. Konzerte und Festivals fallen aus, in Bayreuth entfällt der Festspielsommer, in Salzburg überlegen sie noch. Museen sind geschlossen, Clubs verbarrikadiert (diese waren noch bis vor kurzem so wichtig, dass Städte wie Mannheim eigens einen „Nachtbürgermeister“ als Bindeglied zwischen der umtriebigen Klubszene und den Bewohnern installierten). Selbst der weltberühmte Streetart-Künstler Banksy kann sich vorerst nur im eigenen Badezimmer austoben… All das, was eine Stadt sonst ausmacht, ihre Kreativität und Lebendigkeit, ihr cultural pulse, all das fällt gerade weg.

Was systemrelevant ist, erkennt man oft erst in der Not. Oder hinterher, wenn es nicht mehr da ist. Kunst und Kultur haben sich bislang immer über physische Orte definiert (erst in der Quarantäne sind viele notgedrungen auf – nicht immer geglückte – digitale Formate, auf Live Streaming, virtuelle Rundgänge u.a. umgestiegen). Diese Dritten Orte (Museen, Opernhäuser u.a.) sind meist nicht nur ikonische Landmarks, ob in Oslo, Hamburg oder Krems, sie sind auch und gerade für das soziale Leben einer Stadt/einer Region unverzichtbar. Kulturelle Orte gehören zur kritischen Infrastruktur unserer Gesellschaft.

Tourismus/Stadtmarketing und Kultur an einem Standort sind Geschwister – und wie bei diesen ist das Zusammenleben nicht immer friktionsfrei. Umso wichtiger ist gerade jetzt, mit dem Ausblick auf einen touristischen Neustart in den nächsten Monaten, eine neue Komplizenschaft zwischen den Akteuren. Denn klar ist: der (Städte-)Tourismus nach Corona wird nicht derselbe sein wie der vor Corona. Und diese Entwicklung verlangt ein neues Betriebssystem an den Standorten, neue Allianzen in einer Destination, neue Kooperations-Formate usf., mithin eine Re-Vision:

  • Destinations-Management der Zukunft wird, das war ja schon vor Corona in Ansätzen zu sehen, zum integrierten Standort-Management und treibt somit die gemeinsame Entwicklung von Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Tourismus unter der jeweiligen Marke (=Identität) voran. Binnen-Prozesse sind vorerst wichtiger als Außendarstellung, das Drinnen wird in der Transformationsphase wichtiger als das Draußen, die Stärkung lokaler Communities hat vorerst Priorität.
  • 20190608_213652-02_Place ist wichtiger als Space, analoge Orte gewinnen – gerade bei fortschreitender Virtualisierung der Gesellschaft – künftig noch mehr an Bedeutung. Kulturelle Orte stiften nicht nur Identität und Inspiration, sondern auch Gemeinschaft. Menschen sind soziale Tiere – sie brauchen die physische Begegnung, das gemeinsame Erleben – Socio Pleasure (Lionel Tiger) eben. Kultur-Events sind von essentieller Bedeutung für eine lebendige, pulsierende Gesellschaft (und ein ideales Marketing-Instrument für Destinationen). Diese Events sind – in derselben emotionalen Intensität – nicht durch virtuelle Gigs ersetzbar, sie werden daher – nach überstandener Pandemie – kraftvoll analog wieder auferstehen.
  • art_drive_in_(2)-04Kreativität = Resilienz: Standorte, die ihre kreativen und kulturellen Ressourcen pflegen, sind zukunftsrobust. Gerade Künstler und Kreative, gewohnt mit prekären Lebenslagen umzugehen, zeigen der Gesellschaft neue Perspektiven und neue Möglichkeitsräume auf – ungewöhnliche positive Zukunftsbilder brauchen wir aktuell in dieser Krise mehr denn je. Standorte sollten jetzt unbedingt – in smarten Formaten (Hackathons u.a.) – die Innovationskraft der K&K-Szenen nutzen und neue Synergien – eine Art institutionalisiertes Dauer-Experiment – zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und den Kreativen generieren. Denn seit Joe Strummer gilt das Motto: The Future is unwritten. Und da heißt es jetzt gemeinsam loslegen.

 

Eine beispielhafte Initiative von Düsseldorf Tourismus, die die Kulturszene in den Fokus rückt: https://www.duesseldorf-tourismus.de/storys/

Ein interessantes Paper (inkl. Szenarien über die ökonomischen Auswirkungen von Corona auf die deutsche Kultur- und Kreativwirtschaft) von Prognos: https://bit.ly/2xEYOx4

Dieser Beitrag wurde zuerst, in adaptierter Form, auf dem Blog „Tourismus nach Corona“ unseres langjährigen Kooperationsparters Project M veröffentlicht: https://bit.ly/2wZArd4

 

1 Kommentar zu “Städte-Tourismus: Kultur ist jetzt mehr denn je systemrelevant

  1. ÖFFNET DIE MUSEEN _ JETZT!

    Der #Shutdown, diese Vollbremsung des Alltagslebens, war nötig. Auch die Letzten müssen begreifen, dass es in der Krise auf alle ankommt. Besonders in Gesellschaften, in denen man zuerst an sich selbst denkt, geht es nur so. Das Soziale kann sich kaum anders als durch Regeln effizient zur Geltung bringen. Das war auch schon 1973 bei den autofreien Sonntagen inmitten der Ölkrise so. Seit diesen Tagen hat uns die Energiefrage nie wieder verlassen. Dass jetzt und künftig die persönliche Gesundheit auf dem Spiel steht, haben alle kapiert. Auch diese Sorge wird nicht wieder verschwinden wie eine Grippe. Das ahnen wir. Und weiter?

    Wir sehen, dass die Politik ‚auf Sicht’ durch die Krise navigiert, dass selbst die beratenden Experten vor allem wissen, dass sie zu wenig wissen oder sich sogar wechselseitig Unwissen vorwerfen. Alle, die Entscheidungen für sich und andere treffen müssen, brauchen Zugang zu den Wissensspeichern der Gesellschaft. Deshalb war es eine kontraproduktive Entscheidung, die Museen zu schließen. Dieser Fehler muss umgehend korrigiert werden. Öffnet sofort die Museen! Dort findet sich all das, was wir bisher an Wissen gesammelt haben über den Umgang mit Krisen und Seuchen, ihren Folgen und zu ihrer Bewältigung.

    Geschichte ist die beste Zukunftswissenschaft, die wir haben. Weil wir im Rückblick auf die Vergangenheit sehen können welche Zukunftsoptionen, Szenarien und Entwicklungspfade wir wählen können, wollen oder sollen. Der Kulturhistoriker Egon Friedell hat seine ‚Geschichte der Neuzeit’ 1348 mit der Pest in Florenz beginnen lassen und die Seuche als einen Treiber für Literatur, Philosophie und Technologie identifiziert, aber auch als Anlass für Hexenverfolgung und Antisemitismus. Die Muster und Mechanismen haben sich viel weniger geändert als uns lieb wäre. In der Geschichte sehen wir welcher Weg wohin geführt hat. Aus dieser Erfahrung ergibt sich keine Zwangsläufigkeit für das Heute aber zumindest eine Warnung zu Risiken und Nebenwirkungen.

    Das betrifft auch die Kunstgeschichte, die Beispiele zeigt, welche Strategien Künstler gewählt haben, um heil durch Krisen zu kommen. Claude Monet malte seine Seerosenbilder in Giverny, um mit der Verzweiflung über den ersten Maschinenkrieg 1914 – 1918 fertig zu werden. Das sind Geschichten der Krisenerfahrung, die nur die Museen im Angesicht ihrer Exponate erzählen können. Natürlich sind dabei auch digitale Wahrnehmungshilfen dienlich, aber immer auch ein wenig fahl und flau gegenüber den analogen Objekten. Deshalb öffnet die Museen und zeigt in den Sammlungen Objekte, die verstehen helfen. Beschäftigt Künstler nicht dafür, dass sie nichts tun sondern beispielweise Führungen machen, in denen sie ihre Sichtweisen und Strategien veranschaulichen. In der großen Depression in den USA gab es ein Künstlerprogramm, das Photographen beauftragte das Leben in der Krise zu dokumentieren. Aus diesem Programm gingen künftige Weltstars wie Walker Evans hervor, es entstand überhaupt erst etwas, das man als amerikanische Kultur bezeichnen konnte.

    Öffnet auch die archäologischen Sammlungen und zeigt die Cloaca Maxima der Römer, ohne die eine Millionenstadt wie Rom niemals möglich gewesen wäre. Denn diese Cloaca schuf die Voraussetzung für die ungeheuere Verdichtung von Menschen an einem Ort. In Hamburg brauchte es erst einen Robert Koch, der 1892 zur Bekämpfung der Cholera in der Stadt engagiert wurde und den Zusammenhang von Seuche und fehlender (Abwasser)Infrastruktur aufdeckte.

    Öffnet die Museum! Schöne Idee, aber wie soll das praktisch gelingen? Für den kommerziellen Raum gibt es die Regel, dass 1 Kunde auf 10 qm zulässig sein soll. Eine übliche Sonderausstellungsfläche im Museum hat 800 qm und damit Platz für 80 Besucher gleichzeitig. Für die meisten Museen in Deutschland dürfte das nicht wenig sein. Mundschutz-Benutzung und Hygienekonzept lassen sich leichter umsetzen als in jedem Geschäft. Sanitäre Anlagen werden sowieso penibel gewartet. An der Kasse lassen sich Plexiglashauben installieren wie an der Supermarktkasse. Selbst Führungen über Headphones sind machbar, weil die Zuhörer nicht dicht gedrängt um einen Guide herum stehen müssen.

    Blockbuster-Ausstellungen arbeiten mit einem digitalen Ticketsystem, das online Karten verkauft und Zeitslots für den Besuch zuweist, damit nicht unnötig Warteschlangen entstehen. In kleineren Häusern ließe sich leicht eine Rezeption einrichten, die man telefonisch kontaktieren kann, um Karten und Besuchszeiten je nach Kapazität zu buchen. Jedes Restaurant macht es so mit seinen Reservierungen.

    In Krisenzeiten erweist sich was Sonntagsreden wert sind. Systemrelevanz und Unverzichtbarkeit sind da wohlfeil, um dann in der Krise die Kultureinrichtungen sofort und reflexartig dichtzumachen und den hilfesuchenden Künstlern Einmal-Zahlungen anzubieten mit der impliziten Empfehlung, sich ein anderes Geschäftsmodell zu suchen.

    Es wäre gut, wenn die Kulturverwaltungen eher Arbeit organisieren würden als Unterstützungsbedürftige zu betreuen. Niemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Kultur wichtiger als im Augenblick. Die Bedeutung der Kultur wird genau in dem Augenblick unterschätzt (übrigens auch von vielen Künstlern) wo die Gesellschaft dringend auf sie angewiesen wäre.

    Die phantasievollen Streaming-Aktivitäten im Internet sind nur dann eine nachhaltige Lösung, wenn sie mit Bezahlmodellen verknüpft sind und nicht weitere Selbstausbeutungsinstrumente der Künstler, denen bei der nächsten Vertragsverhandlung nach der Krise vorgehalten wird, sie wären ja auch damals für umsonst aufgetreten.

    Lasst die Museen vorangehen, sie sind für das #PersonalDistancing bestens geeignet im Unterschied zu den darstellenden Künste, die ihr Publikum in Raum und Zeit konzentrieren. Lasst 2020 zum Museumsjahr werden!

    Helmut Maternus Bien
    Ausstellungsmacher, Festival-Kurator, Museumsberater

    westermannkulturprojekte
    Stiegelgasse 39
    55218 Ingelheim
    Fon: 06132-78 00 87
    Fax: 06132-78 00 89

    info@westermann-kommunikation.de
    http://www.westermann-kommunikation.de

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