Jetzt, kurz vor dem touristischen Neustart, liegt noch immer ein Nebel der Ungewissheit über allen und jedem, den wir nur mit langem Atem, mit strategischer Kreativität und ja: mit experimentellem Mut durchtauchen können. Die rosarote Brille aufzusetzen nützt dabei wenig: Schweiz Tourismus etwa (dessen Werbekampagnen Wettbewerber oft blass aussehen lassen, aktuell soll eine mehr als 50 Millionen Franken schwere Marketingkampagne internationale Gäste ins Land locken) rechnet offenbar bereits für den Herbst (sic!) wieder mit Touristen aus den USA! Aber hallo Züri!
Marketing muss trommeln, schon klar. Aber noch nie galt der Grundsatz Märkte sind Gespräche so sehr wie jetzt. In diesen verstörenden Zeiten geht es m.A.n. zuallererst um Empathie, um Zuhören, und erst dann ums Verkaufen. Was bewegt die Kunden in ihrem Innersten, wonach sehnen sie sich?
Was bewegt die Kunden derzeit? Ängste. Sorgen. Und der dringende Wunsch nach Zerstreuung eben dieser Sorgen.
Vergessen wir nicht, dass „da draußen“ die größte Rezession seit den 1920ern anrollt. Dass die Arbeitslosenzahlen in ganz Europa dramatisch ansteigen (noch wird die Statistik durch Kurzarbeit abgefedert) und breite Teile der Bevölkerung einen Wohlstandsverlust erleiden werden. Vergessen wir nicht, dass da draußen, jenseits der Maske, ein Virus lauert, gegen das es voraussichtlich erst Mitte 2021 einen Impfstoff geben wird. Noch nie haben wir die eigene Verletzlichkeit so stark gespürt wie jetzt – als Einzelner wie als Gesellschaft. Wer will da verreisen, wer kann verreisen? (45% der Deutschen wollen derzeit noch abwarten, 29 Prozent haben dieses Jahr vor, überhaupt nicht zu verreisen, Quelle: BZT/GfK)… Und welche Sehnsüchte spannen sich da auf?
Urlaub ist motivpsychologisch immer auch „wiedergegebene Zeit“ (Valentin Groebner) – man holt sich das zurück, was einem der Alltag vorenthält. Da einem in der Quarantäne nun wochenlang die Freiheit vorenthalten wurde, das ungezwungene Leben, die Lebensfreude…. spürt man jetzt diesen Gefühlen umso stärker im Urlaub nach. Man sehnt sich nach Bewegung in der Natur – Bikes und Wanderausrüstung werden wie verrückt gekauft. Endlich raus ins Freie. Aber noch ist da dieses Distancing. Man bewegt sich mit einer erhöhten Aufmerksamkeit, mit angespannten Sinnen durch die Welt, überall könnten virale Risiken lauern – andere Passanten, Türklinken usf. Soziologen sprechen von einer „Choreographie der Angst“. Viele fühlen sich, seit Corona, im öffentlichen Raum unsicher, Nähe und Distanz zu anderen Menschen müssen stets neu austariert werden.
Die touristische Reise des Kunden muss daher durch die epidemiologische Brille gesehen werden, Covid-19 wird uns ja noch länger in unterschiedlichen Phasen begleiten.
Das Leitmotiv für Touristiker heißt: kuratierte Distanz. Der Tourismus ist das Trainingslager für das Distant Living der gesamten Gesellschaft – jetzt, in dieser Übergangs-Normalität bis zur Entwicklung des Impfstoffs.
Abstands- und Hygieneregeln bestimmen die Ausgestaltung der Customer Journey. Touchless Service, berührungslose Exzellenz: Sensoren ersetzen Griffe, die Speisekarte gibt’s nur aufs Smartphone. Die Besucher-Limitierung via App wird zur Norm, ob am Strand, im Bike Park oder im Museum. First come, first serve. Künstliche Intelligenz (Predictive Analysis) sorgt für smarte Gästelenkung im ÖPNV, in Einkaufsstraßen und in der Gastronomie. Anreise am Samstag – das war einmal… Aus dem Destination Management wird ein Visitor Management, das Risiken minimiert und dem Gast gleichzeitig Erlebnis-Qualität garantiert.
Distancing befeuert auch das Produkt-Design: abgetrennt von anderen Gästen sitzt man in Kunststoff-Cubes vor einer Almhütte, im Hotel gibt’s ein Early Bird-Paket auf dem Balkon (anstatt des Frühstücks-Buffets). An den Badestränden unserer Seen liegen Kleinfamilien in Bubbles aus Acryl im 1,5 Meter-Abstand zu einander. In Szene-Lokalen europäischer Städte dinieren urbane Performer unter Plexiglas-Glocken (Plex’Eat). Vor der Küste Ischias sonnen sich betuchte Pärchen auf schwimmenden Premium-Plattformen in sicherer Distanz zu den anderen Urlaubern. Luxus 2020 heißt: Distanz.
Ein spannendes Projekt hat das Salzburger Design-Studio Precht mit seinem „Parc de la Distance“ vorgelegt – es integriert die Regeln des Physical Distancing in das Landschafts-Design: Besucher durchlaufen – in sicherer Distanz zu einander – einen labyrinthförmigen Landschaftspark, der in Spiralen auf das Zentrum, einen Brunnen (=Leben) zu läuft…. Eine meditative, melancholische Adaption eines japanischen Zengartens.
Wir sehen ihn vor uns, diesen post-pandemischen Urlauber, wie er durch den Parc de la Distance flaniert, im Rucksack ein Corona-Kit (Maske, Desinfektionsmittel, Immunitätsausweis), wir sehen eine Urlauberfamilie an der Adria, in einer dieser EU-zertifizierten „coronavirusfreien Familienzonen“ (ein Schnäppchen, die Anreise wurde vom italienischen Tourismus-Ministerium gesponsert, dafür muss man bei jedem Strandbesuch durch einen Tunnel, in dem man mit Desinfizierungsmittel besprüht wird)… Wir sehen ein Best Ager-Pärchen (Risikogruppe) beim Sundowner im Strandkorb an der Ostsee.
Ja, sicher fühlen sie sich, unsere post-pandemischen Urlauber. Aber jetzt wollen sie nur noch eins: die Maske fallen lassen. Das Naturschöne rundum genießen, die Distanz zu den Alltags-Sorgen. Sommerurlaub 2020 heißt schließlich Reduktion: das stille Glück der Ereignislosigkeit.
So kann die post-pandemische Welt aussehen:
Der französische Designer Christophe GERNIGON sorgt mit seinen „Plex’Eats“ für post-pandemisches Design in Restaurants. Credit vorletztes Foto im Beitrag: Christophe Gernigon Studio, https://www.christophegernigon.com
Das Salzburger Studio Precht entwirft mit seinem „Parc de la Distance“ die Freizeit-Landschaft nach Corona. Credit letztes Foto im Beitrag: „Parc de la Distance“: Studio Precht, http://www.precht.at
Beiträge zum Thema:
Für den österreichischen „Standard“ beschreibt Andreas Reiter den post-pandemischen Sommerurlaub, Österreich im Jahr 2023: Retro und reduziert auf das Wesentliche, wie so vieles nach Corona. https://bit.ly/2WYQeTK
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