Remote, hybrid, touchless… In der Pandemie hat sich unser Leben (gezwungenermaßen) immer weiter entmaterialisiert und vom realen Ort entfernt. Alles, was digitalisierbar ist, mutierte in den virtuellen Raum. Orte und ihre angestammten Funktionen werden immer mehr entkoppelt: remote work, remote dining – Fahrradboten liefern das Carpaccio inzwischen ja bis zur nummerierten Sitzbank im Stadtpark.
Ob Konferenzen oder Shopping, ob Dienstleistungen, Gastronomie oder Kultur – jegliche stationären Formate erodierten während der Pandemie. Was bleibt: der physische Ort wird immer öfter decodiert und durch virtuelle Erfahrungen überlagert, Remote Experiences. Diese Entkörperlichung, die auch mit einem Verlust der Sinne einherzugehen droht, weckt verständlicherweise Unbehagen und Irritation: „Ein Live-Konzert unterscheidet sich vom Stream wie die Liebe vom Liebesfilm“, monierte Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung.

Die Verschränkung von physischer und virtueller Welt ist ein virales Erbe der Pandemie, die Mixed Reality wird zum neuen Normal, zum künftigen Betriebssystem in Wirtschaft und Gesellschaft. Derzeit befinden wir uns noch in einer Übergangsphase, in der wir mal das eine (physische) Standbein schwingen, dann wieder das andere (virtuelle). „Software is eating the world, and everything is on the menu.” Manche Branchen wurden besonders stark virtuell angeknabbert, etwa der Tagungs-Bereich: Hybrid Meetings – meiner Einschätzung nach eine Brückentechnologie – sind heute im MICE-Segment Standard, schon bald jedoch werden wir unsere Kongresse und Video-Konferenzen mit Hologrammen anreichern: die neue Generation der Hologramme (etwa Microsofts Mesh) lassen Gesprächspartner bereits beeindruckend lebensecht nebeneinander im Raum erscheinen, sie können für eine Key Note oder eine Panel-Diskussion ungemein plastisch, quasi realiter aus der Ferne eingespielt werden.
Aber nicht nur Arbeit und Wirtschaft diffundieren in hybride Räume und Formate. Wie gemischte Realität aussehen kann, zeigt uns die kreative Hip Hopper-Szene: Travis Scott bettete im April 2021 seine virtuelle Liveshow in Fortnite ein, einem der beliebtesten Online-Spiele der Welt. Der begnadete Rapper trat da vor über 12,3 Millionen Zuschauern/Spielern als überdimensionaler Avatar seiner selbst auf – packend tanzt er sich dabei durch surreale, futuristische Welten. Selten erschienen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, echter und erweiterter Realität so fließend. Räume, wissen Anthropologen, sind ohnehin ein „Geflecht von beweglichen Elementen“ (Michel de Certeau).

Ja, alles in dieser flüssigen Moderne ist gleitend und diffus, Welten und Wahrnehmungen mischen sich, alles greift immerzu ineinander. Neuerdings mutiert auch die Kunst und verlässt den realen Ort und damit auch die angelernten Muster der Rezeption. Hatte man während der Lockdowns Theater, Konzerte und Ausstellungen mehr oder weniger einfallsreich mit Live-Streamings in den digitalen Raum zu übersetzen versucht, so stehen wir nun – technologisch verstärkt durch die immer dichter ausgelegten 5G-Netze – vor der nächsten evolutionären Stufe: immersiven Erfahrungen, ihnen gehört die Zukunft.

Vor einigen Monaten poppten in europäischen Städten (Paris, Brüssel, Linz, Berlin etc.) die ersten immersiven Ausstellungen „Van Gogh: The Immersive Experience“ auf. Ein beeindruckendes Multimedia-Event, bei dem sich Gemälde van Goghs zu übergroßen Projektionen über die Räume riesiger Hallen (etwa der Linzer Tabakfabrik) auswuchsen, ein interaktives, dreidimensionales Sinnenspektakel, bei dem z.B. Sternenhimmel und Sonnenblumen über Wände und Böden aufblitzten und wucherten, die staunenden Besucher einwebten in eine andere Welt.
Walter Benjamin hatte einst von der „Aura“ eines Kunstwerks gesprochen: diese Aura, so seine These, sei nur an einem konkreten Ort echt wahrnehmbar (z.B. die Mona Lisa im Louvre). Davon wird in Zukunft kaum noch die Rede sein. Die digitale Moderne erweitert unsere Resonanzräume, fordert unsere Sinne und Rezeptionsmuster heraus, verknüpft unsere Erwartungen mit feinstofflichen, multimedialen Interaktionen, das Sein mit dem Werden, das Mögliche mit dem Unmöglichen. „Die Annahme, dass man Gemälden näherkommt, wenn man möglichst nah vor ihnen steht, ist infantil… Ein Kunstbetrieb, der virtuelle Begegnung mit einem Kunstwerk für irgendwie unecht hält, verhält sich wie ein Säugling, der alles anfassen muss“ (Medienkünstler Peter Weibel, in brand eins 06/21).

Ja, die Dekonstruktion des Ortes geht weiter. Auch ein Museum ist in Zukunft nicht mehr zwangsläufig an einen realen Ort gebunden – es dehnt sich (temporär oder ganz) in den virtuellen Raum aus, in Zwischenräume. Kunstwerke wiederum können mit immersiven Technologien „skaliert“ werden – machen sich somit allerdings, so die Kritik, endgültig zur reproduzierbaren Ware. Kultureller Kapitalismus eben. Aber: sie können dem Betrachter auch völlig neue, ungeahnte Erfahrungen schenken, anytime, anywhere.
Fazit: die digitale Transformation webt uns immer stärker in eine Mixed Reality ein. Neue immersive Formate entstehen, diese verändern insbesondere den Gaming-Bereich, aber auch MICE und Kultur. Die Blended Experiences erweitern die sinnlichen Erlebnis-Qualitäten und wirken sich nachhaltig auf die Erzählung kultureller Orte sowie das (touristische etc.) Marketing aus. Alles mutiert eben.
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