Ich stehe, an einem Herbsttag letzten Jahres, auf einem Bahnsteig in Offenbach und warte auf den Regionalzug, der mich zum nahen ICE-Knoten bringen soll. Nach 15 Minuten vergeblichen Wartens kommt die Ansage, dass der Regionalexpress RE… heute „wegen plötzlichen Personalmangels“ ausfällt. Drei Wochen später, ich bin gerade spät abends mit dem Flieger in Düsseldorf gelandet, stehe ich mit den anderen Passagieren zum Ausstieg bereit in der Kabine. Doch die Tür nach draußen öffnet sich nicht. Nach zehn Minuten meldet sich die Flugbegleitung: wir müssen uns leider noch gedulden, die Passagiertreppe, die außen an die Maschine angedockt wurde, müsse von einer „Fachkraft“ montiert werden, und leider stehe diese Fachkraft derzeit nicht zur Verfügung (sic). Wieder langes Warten…

Solche Geschichten passieren nicht in Absurdistan, sondern derzeit überall in Europa: Restaurants, die am Sonntag geschlossen sind, weil sie keine Mitarbeiter finden oder Gasthöfe, die die Speisekarte halbieren müssen, da sie nur noch einen Koch haben. Fluglinien, die mangels Personal ihre Flugpläne zusammenstreichen (mehr als 1.000 Flüge im Juli bei Lufthansa und Eurowings) oder (wie Easyjet) die Sitzplätze in ihren Maschinen reduzieren. Lange Warteschlangen an Flughäfen, weil es zu wenig Security-Personal gibt. Container, die weltweit liegen bleiben, Unternehmen, die ihre Produktion mangels Vorlieferung kurzfristig einstellen müssen usf.

Wir haben es in diesen multiplen, einander überlagernden Krisen (Klima, Pandemie, Ukraine-Krieg) mit tektonischen Verschiebungen zu tun: Lieferketten sind weltweit unterbrochen, die Energiepreise explodieren, den Dienstleistungsbranchen (allen voran dem Tourismus) laufen die Mitarbeiter:innen davon, Lebenshaltungs- und Betriebskosten steigen rasant, die Inflation im Euroraum liegt aktuell bei rund 8%. Die fetten Jahre sind vorbei. Die Realeinkommen sinken, der Wohlstand wird prekär: „In war we must move back from the age of plenty to the age of scarcity“ (John Maynard Keynes). Eine Episode der Knappheit ist angebrochen. Sie ist vorübergehend, aber dennoch eine Zäsur, da sie uns aus unserer gewohnten Komfortzone und aus unserer gewohnten Wachstumslogik herausholt.

Geht es in diesem „Age of Less“ (David Bosshart) primär um eine Verwaltung des Mangels, des Verzichts (Konsum, Freizeit etc.), oder können wir daraus eine Reduktion in positivem Sinn machen, bei der wir überflüssigen Ballast abwerfen und materielle Verluste positiv umcodieren (z.B. mehr Lebensqualität)? Schaffen wir es mit zirkulären Wirtschaftssystemen unsere (in jeglicher Hinsicht) künftig knapper werdenden Ressourcen intelligent (und fair) zu managen? Lässt sich unser Wohlstand mit smarten, glokal aufgesetzten Lieferketten auf eine neue, achtsame Ebene heben? Ich meine: ja! Aber der Wohlstand wird anders aussehen, als der, den wir Wirtschaftswunderkinder und -Kindeskinder gewohnt waren. Und, wir werden einiges dafür tun müssen.
Wirtschaftskrisen sind immer auch Sinnkrisen, sind Zeiten der Revision und der Transformation. Wie sieht das gute Leben von morgen aus? Welche Art von (klimagerechtem) Wachstum und welches Wirtschaftsmodell brauchen wir dafür? Wie können wir gesellschaftliche Verteilungskonflikte gerecht austarieren? Zukunft ist keine Destination, sondern eine Fiktion… ein Fächer von Möglichkeiten, die wir zu Wirklichkeiten umformen. Dafür braucht es aber zuallererst ein kraftvolles Narrativ, auf das sich die Gesellschaft verständigt und für das die Politik dann die Rahmenbedingungen stellt.

Wir sind bereits mittendrin im Umbau hin zu einer smarten und regenerativen Welt, die aktuellen Krisen beschleunigen diese Transition. Übergänge freilich sind meist anstrengend und voller Unsicherheiten. Planbarkeit wird ersetzt durch szenarische Narrative. Alles ist im Umbruch, jegliche Grenzen lösen sich auf (z.B. zwischen physischer und virtueller Welt), lineare Wertschöpfungsketten werden zu zirkulären Wertschöpfungsnetzen, Produktionsprozesse werden wieder wo sinnvoll an regionale Standorte zurückgeholt. Sharing-Modelle (Nutzen statt Besitz) und Product-as-a-Service erweisen sich schon heute vielfach als belastbare Geschäftsmodelle, da smart und nachhaltig, die Gemeinwohl-Ökonomie findet europaweit (von der Stadtplanung bis zur Regional-Entwicklung) vermehrt ihren Einsatz usf. Resilienz bedeutet immer transformative Resilienz – und solche Prozesse erfordern ein agiles Mindset. In flüssigen Ökosystemen müssen alle Akteure ihre Rolle immer wieder neu adaptieren.
Um nicht im Blindflug in die Zukunft zu segeln, braucht es ein Cockpit. Ein holistisches Dashboard zur vorausschauenden, evidenzbasierten Steuerung der Transformation und der Risiko-Politik. Etliche der etablierten wirtschaftlichen Performance-Kriterien sind überholt, neue Indices wie CO2-Verbrauch, Social Impact von Unternehmen, regionale Lebensqualität u.a. kommen dazu.

Dringendste politische Aufgabe ist es m.A.n., die Erosion in der Mitte der Gesellschaft und damit verbundene Verteilungskonflikte möglichst fair auszutarieren (ein kleiner Teil der sozialen Milieus in der Mitte wandert in diesen Krisenzeiten nach oben, der größere sackt jedoch nach unten ab). Es gilt die breite Teilhabe am Wohlstand (z.B. über frugale Innovationen und Transferleistungen) und an der inklusiven Gestaltung der Zukunft (z.B. über smarte partizipative Formate) zu sichern.
Ja, wir werden vorübergehend weniger Ressourcen (Energie, Rohstoffe, Realeinkommen, Manpower etc.) haben. Aber mit dem intelligenten Einsatz smarter, KI-getriebener Geschäftsmodelle, mit einer smarten Kultur der Kollaboration und einem innovativen Spirit können wir eine neue Stufe der Lebensqualität erreichen, so wie es einst der legendäre Werbeclaim verhieß: Reduce to the max.
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Wir vom ZTB Zukunftsbüro stehen – bei zentralen Themen der Transformation – seit nunmehr 25 Jahren nicht nur unseren Kunden, sondern auch den Medien als geschätzter vorausschauender Gesprächspartner zur Seite. Credit Foto unten: ORF (Screenshot)



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