Der Mensch irrt, seit er auf der Welt ist. Kolumbus wollte nach Indien und entdeckte Amerika. Spätestens seit damals gilt Orientierung, also die Fähigkeit „sich zeitlich, räumlich und bezüglich seiner Person – in seiner Umgebung – zu orientieren“ (Wikipedia) als Kern-Disziplin.
In einer Informations-Gesellschaft mit ihrem Overkill an Informationen und ihrer galoppierenden Halbwertzeit des Wissens wächst das Bedürfnis nach Orientierung stärker als je zuvor. Orientierung wird zur zentralen Kultur-Technik. Ans Ziel kommt, wer Komplexität reduzieren kann und eine Ideallinie findet durch das Dickicht der Daten.
Je schnelllebiger die Zeit, je volatiler das Umfeld, desto mehr wird Orientierung zur individuellen wie betriebswirtschaftlichen Überlebensfrage. Jede Zeit bringt die ihr gemäßen Instrumente der Orientierung hervor. Orientierten sich die nomadischen Völker am aufgehenden Licht im Osten (=Orient), kamen später Landkarten und Kompass auf den Markt, so nützen wir heute, in Zeiten digitaler Vernetzung, auf Software beruhenden Orientierungshilfen wie Google Maps ua., um ans Ziel zu kommen. Mit Google begann die Ära der Such-Technologien, die unerträgliche Vielfalt an Informationen wurde auf ein algorithmisch basiertes Ranking reduziert.
In einer Netzwerk-Ökonomie etabliert sich freilich immer mehr eine andere Art von Orientierung. Die Empfehlung von Freunden, auf sozialen Seiten wie etwa Facebook, ist der glaubwürdigste Wegweiser durch den Informations-Dschungel. Nicht mehr die Qualität der Information ist relevant, sondern die Aufmerksamkeit, die sie im Netz erzielt. Trifft eine Information auf starke Resonanz innerhalb eines Netzwerks – und hier insbesondere bei den jeweiligen Meinungsbildnern – gewinnt sie an Bedeutung.
Die Peer Group wird zum Info-Broker. Zum Essen gehen wir in die angesagte Guerilla-Kitchen – über Peer-Marketing auf Facebook erfahren wir, in welcher Privatwohnung gerade eine Hausfrau für eine Handvoll erlesener Gäste kocht. Die Kekse kaufen wir bei der Guerilla-Bakery – wann und wo sie öffnet, erfahren wir (und scheinbar nur wir) ebenfalls in der Community. Das schicke Designer-Jackett kaufen wir in einem Pop-up-store, der heute hier ist und morgen dort, aber wir bleiben immer am Ball dank unserer Peer-Gruppe, ortsbasierte Netzwerke wie Foursquare empfehlen Geheimtipps ums Eck.
In den sozialen Netzen wird soziales Kapital aufgebaut, mit der stärksten Leitwährung, die es gibt: Aufmerksamkeit. Menschen definieren sich über die Qualität ihrer sozialen Beziehungen, sie teilen Werte, Informationen und – vor allem – Gefühle miteinander. Anthropologen wie Lionel Tiger sehen in dieser sozialen Kontaktpflege eine Parallele zu den Affen, die sich durch wechselseitiges Lausen ihrer Zuneigung versichern. Und dies geht nur im kleinen, überschaubaren Rahmen: Internetnutzer sind im Schnitt in 2,4 sozialen Netzwerken angemeldet und haben dort 133 Kontakte (Quelle: BITKOM).
Dient Google primär der Navigation (durch den Daten-Dschungel), so sind Facebook und Co. gewissermaßen die Destination, die Oase für die digitalen Nomaden. 15 Prozent ihrer gesamten Online-Zeit verbringen die Menschen derzeit weltweit auf Facebook. Vor allem unterwegs, beim Warten, in der U-Bahn etc. kommuniziert man mit seinen Freunden im Netz, betreibt soziale Kontaktpflege. Und wenn man aufblickt, sieht man nebenan reale Menschen, ihrerseits in Kommunikation mit virtuellen Freunden. Menschen – greifbar, nahe, wirklich. Auch wenn wir die wachsende Komplexität über Algorithmen reduzieren – letztlich greift der Mensch immer auf das Wichtigste zurück: auf den anderen Menschen.
Dieser Artikel ist als Kolumne von Andreas Reiter im Magazin der österreichischen E-Wirtschaft „Österreichs Energie“ im Oktober 2o11 (leicht abgeändert) unter dem Titel „Starke Leitwährung ‚Aufmerksamkeit'“erschienen.
http://oesterreichsenergie.at/inhaltsverzeichnis-und-coverstory.html
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