Jede Zeit hat ihre Mythen und Markierungen. War Jahrzehnte über die Dienstleistungsgesellschaft der ökonomische Schlüsselbegriff, so gilt die Wissensgesellschaft als das Label des frühen 21. Jahrhunderts.
Doch was, mag man sich all die Jahre gefragt haben, ist mit der Industrie? Kommt die denn gar nicht mehr vor? Die Soziologen sprachen – Daumen senkend – vom postindustriellen Zeitalter, die Volksökonomen resignierend von der arbeitsteiligen Weltwirtschaft (im Westen wird konsumiert und in Asien wird produziert), als wäre man für immer auf diese Rolle abonniert. Vom Industrie-Standort Europa war zuletzt immer seltener die Rede. In einer zunehmend virtuellen Ökonomie geht es, so die allgemeine Verständigung, künftig immer mehr um clicks als um bricks.
Umso erstaunlicher war die Meldung, die vor kurzem aus Brüssel kam: der für Industrie zuständige Kommissar Antonio Tajani sprach sich in einem Strategie-Konzept dafür aus, Europa zu „reindustrialisieren“, also den Anteil der Industrie an der europäischen Wirtschaftsleistung bis zum Jahr 2020 von derzeit 16 auf 20 Prozent anzuheben. Schließlich sei die Industrie, so die verblüffende Erkenntnis, entscheidend für ein „wohlhabendes und wirtschaftlich erfolgreiches Europa“.
In der Standort-Ökonomie gilt als Grundgesetz, dass die Industrie – aller Virtualisierung zum Trotz – Motor eines Wirtschafts-Standorts ist. Um den produzierenden Sektor gruppieren sich schließlich Zulieferer, Dienstleistungsunternehmen und Forschungseinrichtungen. Im kleinen Österreich – dessen Image primär ja mit einem Tourismus- und Kulturland assoziiert wird – produziert die Industrie direkt und indirekt immerhin mehr als 59 Prozent der Wertschöpfung. Wo die Industrielandschaft nur dürftig ausgeprägt ist, entstehen meist substantielle Strukturprobleme – man muss nur nach Griechenland oder Portugal schauen.
Europa braucht fraglos eine starke industrielle Basis, gerade auch um die Kernkompetenzen einer Wissensgesellschaft – Innovation und Kreativität – auf höchstem Niveau weiter zu entwickeln. Im globalen Wettbewerb kann Europa nur mit wissensbasierten Industrien – Clean Technology, Smart Tech, Life Sciences – Wettbewerbsvorteile generieren. Somit wird Wissen – und mehr noch die kreative Übersetzung von Wissen in Innovation – zur Schlüssel-Ressource in Wirtschaft und Gesellschaft.
Es ist somit auch kein Zufall, dass Wissen plötzlich wieder sexy ist. Überall entstehen neue spannende Formate, die Wissen spielerisch kommunizieren. Forschungsexpeditionen führen Schüler und Jugendliche quer durch Stadträume und Labors, Science Festivals schießen aus dem Boden. Der Mathematiker Rudolf Taschner gilt in Wien ja schon fast als Popstar. Die Science Busters (Motto: „Wer nichts weiß, muss alles glauben“), die schrägste „Boygroup“ der Wissenschafts-Community, durchstreifen in ihren TV-Shows und Auftritten die Welt der Physik quoten- und bestsellerverdächtig.
Für die neue Lust am Wissen, an der Naturwissenschaft stehen auch die Science Center mit ihrer Wissenschaft zum Anfassen: ob das Phaeno in Wolfsburg, das Nemo in Amsterdam, das Klimahaus in Bremerhaven oder das Welios in Wels – sie alle vermitteln komplexe naturwissenschaftliche und technische Themen experimentell und interaktiv.
Im Standort-Marketing gilt das Label „Stadt der Wissenschaft“ als begehrte Auszeichnung, Städte wie Münster, Lübeck oder Bielefeld forcieren strategisch die Verzahnung von Wissenschaft, Wirtschaft und Bewohnern. „Im Wettbewerb um kreative Köpfe, Investitionen und eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung ist Wissenschaft heute Impulsgeber “, sagt Annette Klinkert, die mit ihrer Bielefelder Kommunikations-Agentur city2science Städte als spannende „Living Labs“ bespielt. „Wir bringen das Wissen in die Mitte der Gesellschaft – auf Straßen und Plätze, in Museen und Theater. Die interaktiven Formate wie Science Festivals, Science Cafés, SciCamps u.a. sind aber mehr als reines Edutainment, sie setzen Wissenschaft in strategische Beziehungen: zur lokalen Stadtentwicklung, zu Künstlern, Unternehmen usf.“
Und auch die Wirtschaft selbst hat die erlebnisorientierte Wissensvermittlung erkannt und den Experience Value als zentralen Erfolgs- und Differenzierungsfaktor in Brand Lands, in Markenwelten umgesetzt, ob VW mit der Autostadt, Swarovski mit den Kristallwelten oder Zotter mit seinem Schoko-Laden usf. Auf gesättigten Märkten mit meist austauschbaren Angeboten entscheidet das emotional design. In der kreativen Steiermark vermarkten sich High Tech-Schmieden und Wirtschaftsbetriebe unter der Dachmarke „Erlebniswelt Wirtschaft“, mit ihren gläsernen Fabriken werben sie für den Innovations-Standort, schnüren smarte touristische Erlebnis-Packages für Besucher und umwerben somit auch Talente und Fachkräfte.
Das Match lautet künftig nicht mehr Wissenschaft gegen Industrie, Brain Power gegen Man Power, vielmehr geht es um eine intelligente Verzahnung der beiden Leitbranchen. Innovation speist sich aus Inspiration. Wer Bahnbrechendes produzieren will, muss mehr wissen.
Dieser Text erschien – in abgewandelter Form – zuerst als Trend-Kommentar von Andreas Reiter im Heft 11/12 2012 „Österreichs Energie“, dem Magazin der österreichischen E-Wirtschaft.
Links:
http://www.erlebniswelt-wirtschaft.at/
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