Nicht jeder hat das Glück, in einer dieser anmutigen historischen Städte HeidelbergFreiburgSalzburg zu leben – eingebettet in ewige Schönheit und in eine prosperierende Stadtgesellschaft. Es soll auch Leute geben, die in Duisburg wohnen, in Lille, in Bratislava.
Oder in Offenbach. Die hessische Kommune hatte über viele Jahre hindurch negative Schlagzeilen abonniert: eine der höchsten Pro-Kopf-Verschuldungen unter deutschen Großstädten, massiver postindustrieller Strukturwandel, Arbeitslosenraten von bis zu 15%, lange ging es fast nur noch in eine Richtung: nach unten. Einen weiteren Spitzenplatz belegt die Stadt – mit dem höchsten Migrationsanteil Deutschlands (58,4%).
Doch nichts ist heute mehr von Dauer, auch nicht die Untergangsstimmung. Aus der kleinen, schmuddeligen Schwester von Frankfurt, aus „Babos Kiez“, in dem Rapper und Outcasts einträchtig neben veganen Baristas und Betreibern von schrillen Nageldesign-Studios leben, aus der Arrival City mit ihren Bewohnern aus 180 Nationen, wird allmählich ein Hot Spot. Fast so was wie eine heimliche Schwarmstadt, in die es junge Familien (noch leistbare Wohnungen!) und auch die Hippster-Karawane immer öfter zieht, auf ihren Distinktions-Touren abseits des Mainstreams.
Der Imagewandel Offenbachs vom Underdog zum Überflieger (den inzwischen selbst die New York Times entdeckt hat) ist vor allem der umtriebigen Kreativszene geschuldet, aber auch einer lebendigen Stadtgesellschaft, die „hier so eine Art Leitwährung“ ist, wie Loimi Brautmann sagt. Mit seiner Agentur Urban Media Project arbeitet er an der Schnittstelle zwischen Kommunikation und Stadtentwicklung und übersetzt mit Projekten wie Offenbach.Überleben oder Offenbach loves you auf wunderbar-schräge Weise den Spirit der Stadt. „Wir haben uns bei all unseren Arbeiten immer gefragt: Was ist die DNA dieser Stadt? Wir können ja nur mit dem arbeiten, was da ist. Wir wollten aus den Schwächen eine Stärke machen, die kulturelle Vielfalt und die Offenheit in attraktive Geschichten verpacken. Natürlich immer mit einem Schuss Selbstironie.“
Offenbach.Überleben also. Die Nase reinstecken in düstere Kieze und duftende Barber Shops, in portugiesische Cafe-Bars und türkische Bäckereien. Echt analog und echt Instagramfähig… Pralles Leben, fröhliche Gegensätze, kleiner Ghetto-Schauer und eine Prise Brooklyn (Gangsta’s Paradise). Eine offene Stadt, mit offenem Herzen: „Wir wollten auch die sichtbar machen, die keine Stimme haben… und animierten die Menschen dazu, ihre Türen den Fremden zu öffnen.“
Der Hype um die Rough City Offenbach ist kein Zufall. Das Narrativ des rauhen Stadt-Lebens trifft schließlich mitten ins Sehnsuchtsfeld der Digital Natives. „Great cities are tough; their ugliness is inseparable from their sexiness“ (Jonathan Tel). Je aufgeräumter und synthetischer unsere Lebenswelten, je mehr unser Alltag einem adrett kuratierten Handy-Display gleicht, desto mehr sehnt sich der postmoderne Nutzer nach Erlebnissen, die ihn in der Tiefe berühren und bewegen, die eben nicht durchinszeniert sind wie eine Customer Journey. In einer Welt der permanenten Selbstoptimierung und wattierten Echokammern werden Brüche und Fragmente plötzlich sexy, das Dunkle und Rauhe, das Unperfekte, die Abweichung.
Und genau deswegen gelingt Transformation (fast) immer dort, wo es knirscht und kracht, wo es eine starke Kreativ-Szene gibt. Kreativität ist der Treibstoff für Innovation, sie wächst an den Rändern und nicht in der Mitte, sie wächst an der Peripherie, in kulturellen Zwischenräumen, in den Hinterhöfen von Babos Kiez und nur selten im Vorstandsbüro.
Auch in Offenbach entwickelte sich rund um die Hochschule für Gestaltung eine kraftvolle Kreativwirtschaft mit 3.000 Unternehmen – mit Ablegern wie z.B. einer spritzigen Start-up-Kultur im neuen Hafenviertel… Andere ehemalige Industrie- Städte haben diesen kreativen Schub an der Waterfront schon hinter sich, Glasgow und Bilbao, Newcastle und Linz – die Kreativen waren hier wie dort ein Aufputschmittel auf dem Weg aus der postindustriellen Depression hin zu einer Creativ City.
„Wir wollten immer abseits der Postkarten-Motive bleiben, immer mit Augenzwinkern“, resümiert Loimi Brautmann die spannenden Interventionen seiner Agentur in Offenbach.
Und so hat man ein Logo ausgegraben, das jahrelang in den Schubladen lag, und platzierte es mit postmoderner Selbstironie an einer der hässlichsten Stellen der Stadt, dem berühmten Schriftzug in Hollywood nachempfunden – Offenbach Hills eben. Eh klar. „Heute geht kaum ein Bewohner daran vorbei, ohne dort ein Selfie zu machen.“ Das Logo ist in kurzer Zeit der Selfie-Spot für die Offenbacher geworden, ein Identitäts-Anker in stürmischen Zeiten, ein Meme mit unbezahlbarem Medienwert… Ach ja: „Und am Ende kommen Touristen.“
Foto-Credit: Intro-Foto (Bartjungs/GØLD’s): Christian Reinartz, alle weiteren Fotos (bis auf die letzten beiden): Urban Media Project
Empfehlenswerte Links zum Thema:
www.urbanmediaproject.de
https://www.oflovesu.com
http://www.offen.city/
Schöner Artikel! Macht richtig Lust auf die Stadt. Woher stammt das Zitat von Jonathan Tel?