Gesellschaftlicher Wandel Place Making Urban Future

Fragmentierte Stadt: Achtel statt Viertel

Städte sind Spiegelbilder der Gesellschaft. Wir leben in einer digitalen Gesellschaft, die sich mit dem Tempo eines Fingerzeigs auf dem Display umorganisiert. Die virtuelle Ökonomie mit ihrer asynchronen Taktung bricht die Raum- und Zeitstruktur der Stadt auf. Das Netz zerstreut Identitäten und verteilt dafür temporäre Heimaten – ein Pop up-Store oder ein Veganer-Eissalon hier, ein soziales Netzwerk dort – zeitgemäße Boxenstopps für digitale Nomaden. Flanieren im Netz und Flanieren im physischen Raum gehen ineinander über.

So wie im 19. Jahrhundert die Industrialisierung den öffentlichen Raum neu ordnete – hier die Fabriken, dort die Schlafsiedlungen -, so bricht nun die Netz-Ökonomie das Gewebe unserer Städte auf. Digitale Geschäftsmodelle fegen stationäre Läden hinweg – nicht nur der Handel (E-Commerce macht in wenigen Jahren bereits ein Viertel des gesamten Einzelhandelsumsatzes aus), sondern viele andere Dienstleister (z.B. Banken) und Produktionen werden virtualisiert. So viel freie Fläche war nie – die Umnutzung von Handels- und Gewerbeflächen (auch von großen wie ehemalige Kaufhäuser, siehe Karstadt & Co.) wird zu einer zentralen kommunalen Herausforderung.

Kreative Trauerarbeit

02_Die kreative Umcodierung der Räume wird auch zu einem Imagefaktor für Städte und somit Teil des Urban Brandings (etwa die begrünte High Line in New York). So wie vor Jahren postindustrielle Leerstände umfunktioniert wurden in Hubs für Kreative und Werbeagenturen, so wie in Industrie-Ruinen im Ruhrgebiet heute Extremsportler herum klettern oder Taucher im Oberhausener Gasometer dümpeln, so steht jetzt die Umnutzung vieler städtischer Erdgeschoßflächen abseits der 1A-Lagen an – künftig auch maroder Einkaufszentren und Baumärkte auf der grünen Wiese.

Es gibt sie bereits da und dort, die viel versprechenden Nachnutzungen wie etwa die Street-03Lofts der Urbanauten in Wien (siehe dazu https://blog-ztb-zukunft.com/2014/01/23/space-in-transition-im-bett-der-urbanauten/) oder auch großflächige Umnutzungen – in Chemnitz etwa wurde das Kaufhaus Schocken in ein (wirklich cooles) Archäologiemuseum umgewandelt, auch das multifunktionale Kulturkaufhaus DAStietz ist gelungen.

Achtel statt Viertel

„Wenn der echte Raum der Echtzeit weicht, benötigen wir eine Rehabilitierung der kleinen Einheiten, der Mikrolebenswelten“, erkannte der Geschwindigkeits-Theoretiker Paul Virilio schon vor Jahren. Diese räumlich kleinen Einheiten (Achtel statt Viertel!) sind die wahren Assets der Stadtkultur, sie spiegeln die pralle städtische Vielfalt wieder, die soziale und kulturelle Diversität – die Subkultur und die urbanen Szenen, die App-animierten touristischen Trampelpfade, aber auch die deftigen Vorstadt-Soziotope.

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Gleichzeitig wird aber auch die räumlich-soziale Fragmentierung vorangetrieben – dies spiegelt sich in Immobilienpreisen und Handelsformaten. Die Stadtteile differenzieren sich nach Kaufkraft und sozialen Milieus. Mikro-Communities entstehen, mit jeweils eigenen Codes, Labels und Konsum-Präferenzen. Dabei sind die Stadt-Nomaden mehr denn je getrieben von der Sehnsucht nach authentischen Erlebnissen, nach einem Face-to-Face-Kontakt, nach haptischen Erlebnissen. Selektive Shopping-Formate (Kuratiertes Shopping, One-Stop-Lösungen à la Kochhaus u.a.) sind daher unabdingbar.

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Stadt bedeutet immer Vielfalt, bunte, heterogene Mikrokosmen. Die aktuelle Entwicklung unserer Innenstädte, ob in München, Wien oder Hamburg gibt diesbezüglich jedoch zu denken. Innenstädte sind das Epizentrum der Emotionen, Speicher der kollektiven Identität. In dieses innerstädtische Psychotop greifen nun aber immer stärker internationale Investoren massiv ein. In den Zentren reihen sich die Flagship Stores der Luxus-Labels aneinander, austauschbare synthetische Konsumwelten in historischem Gemäuer – ob die Kaufingerstraße in München oder das „Goldene Quartier“ in Wien… Transiträume für russische Oligarchen und arabische Touristen-Clans. Touristisch sinnvoll, als Erlebnis- und Identifikationsraum für die Bewohner jedoch wenig geeignet. Urbane Resilienz ist anderswo.

scan0005Ein Interview mit Andreas Reiter zum Thema „Innenstadt in der Krise“ in der ‚Welt am Sonntag‘ vom 29.7.2014 (links).

Dieser Blog-Beitrag erschien auch –  adaptiert – in diversen IHK-Zeitungen (z.B. im September-Heft 2014 der IHK Osnabrück; unten)

ihk

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